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Kiosktour durch Bochum

„Eine gemischte Tüte bitte!“ Bei wem kommen da keine Kindheitserinnerungen auf? Ob Kiosk, Bude oder Trinkhalle, sie gehören einfach zum Ruhrgebiet. Der Kiosk war schon immer ein kultureller Begegnungsort und ein beliebter Treffpunkt in der Nachbarschaft. Und wusstet ihr, dass die Trinkhallen des Ruhrgebiets zum immateriellen Kulturerbe erklärt wurden? Das haben wir als Anlass genommen, um eine kleine Tour durch Bochum zu machen, denn die Kioskkultur wird auch bei uns großgeschrieben.

Kioskwallfahrt durch die Speckschweiz

Unsere Kollegin Bettina aus der Abteilung Tourismus hat uns von einer speziellen Kiosk-Führung durch die Bochumer Speckschweiz erzählt. Das hört sich doch für einen Anfang spannend an. Und überhaupt: Speckschweiz? Wo ist die denn überhaupt? Also treffen wir uns mit Giampiero Piria, der die sogenannte Kiosk-Wallfahrt veranstaltet, am Bergbau-Museum. Giampiero Piria, Gästeführer, Schauspieler und Lebenskünstler, erklärt uns erst einmal, was ein Kiosk überhaupt ist. Der Begriff stammt aus dem persischen und türkischen Raum und beschreibt einen nach allen Seiten offenen, überdachten Verkaufsstand, der als Treffpunkt und Begegnungsstätte diente. Im Ruhrgebiet entstanden die ersten Kioske an den Eingangspforten der Zechen als Trinkhallen. Hier wurde zunächst Wasser ausgeschenkt, daher der Name. Spannend!

So weit, so gut. Nun müssen wir aber bitte noch klären, was die Speckschweiz ist. Die Speckschweiz bezeichnet das Wohnviertel zwischen den Schmechtingswiesen und dem Bahnhof Hamme am Rande der Bochumer Innenstadt. Wie die Speckschweiz zu ihrem Namen kam, ist laut Giampiero Piria nicht ganz klar. Man vermutet aber, dass die leicht hügeligen Schmechtingswiesen romantisiert etwas an die Schweiz erinnerten (dafür braucht man vielleicht etwas Fantasie). Außerdem gab es im Bereich des heutigen Bergbau-Museums einen Schlachthof, der eventuell zu dem Zusatz „Speck“ inspirierte. Durch die besagten Schmechtingswiesen und dem dortigen Kleingartenverein machen wir uns auf den Weg. Dieser liegt geradezu idyllisch unweit der viel befahrenen Herner Straße. So etwas erwartet man hier überhaupt nicht. Unser Kollege Felix, Ur-Bochumer, staunt: „Hier war ich noch nie!“

Die Tour geht durch das Viertel vorbei an der einen oder anderen Bude, zu der Giampiero Piria jeweils eine kleine Anekdote zum Besten gibt. Manche Kioske sind in Betrieb, manche stehen leider leer. Kiosksterben im Ruhrgebiet? Giampiero Piria dreht sich seine gefühlt zwanzigste Zigarette und winkt ab. Er glaubt an die Zukunft der Buden – immerhin sind sie immaterielles Kulturerbe. In der Speckschweiz sind noch sehr viele Altbauten aus der Gründerzeit erhalten – wunderschön teilweise. Wir denken, dass man viel öfter Spaziergänge durch die unterschiedlichen Kieze unternehmen sollte. Überall entdecken wir Neues. Auf einer Hauswand prangt ein riesengroßer gesprayter Spatz – das ganze Haus ist mit einem beeindruckenden Natur-Graffiti gestaltet.

Zum Ende der Route erleben wir einen wahren Lost Place: Neben einem alten Bunker an der Haldenstraße steht ein Kioskleerstand. Giampiero Piria erzählt, dass auf dem Grundstück hinter dem Kiosk früher Tische zum Verweilen standen und sogar Hühner gehalten wurden. Nun ist die Wand mit Graffitis besprüht.

Den Abschluss bildet die Trinkhalle im Kortländer Kiez. Hier gibt es über hundert Biere aus aller Welt zur Auswahl. In lockerer Atmosphäre kann man hier entspannt sitzen und quatschen und dabei ein Bierchen schlürfen. Der Betreiber bietet auch Biertastings an. Wir sind am Spätnachmittag noch nicht in Trinklaune, beschließen aber, auf jeden Fall wieder zu kommen, wenn hier ein bisschen mehr los ist. Wer auch Lust auf Büdchen-Kultur in Bochum hat, kann die Tour für Gruppen bei uns buchen

All in Kiosk

Vom Thema Kiosk angefixt, haben wir Lust auf mehr. Deswegen gehen wir am nächsten Tag weiter zur Joachimstraße, Ecke Weiherstraße. Uns sticht direkt das türkisfarbene Logo mit dem Namen der Trinkhalle ins Auge – und dieser ist Programm: Beim All in Kiosk gibt es mehr als man aus einem typischen Kiosk kennt. Inhaber Timo Wulfmeyer begrüßt uns mit einem VfL-Schal um den Hals und einem herzlichen „Mahlzeit!“. Gleich auf den ersten Blick merkt man, dass hier Bochum und die Trinkhallen-Kultur im Ruhrgebiet auf eine moderne Art gelebt wird. Die Skyline der Stadt, Fußball-Spieltagsplakate und blau-weiße Fanartikel schmücken den Verkaufsraum. 

Kaum eingetreten, werden wir auf einen Kaffee eingeladen. Versorgt sind wir also schon mal bestens. In seinem Büdchen verkauft Timo den kolumbianischen Apogeo Kaffee, der bei der Bochumer Rösterei röst.art geröstet wird und unterstützt damit die lokalen Händler. Allgemein sei für ihn eine gut funktionierende Gemeinschaft essenziell für die Entwicklung des Viertels Ehrenfeld. So werden auch Bilder von Rang Haider ausgestellt. Der lokale Künstler hat sogar extra ein Kunstwerk mit Bochumer Sehenswürdigkeiten für den All in Kiosk gemalt, welches ein absoluter Blickfang ist.  

Neben einer großen Auswahl an verschiedenen Biersorten und allen möglichen Süßgetränken wie den neuesten Eistee-Sorten kommt auch das Kinderherz nicht zu kurz. Auf der Theke stapeln sich die Süßigkeiten-Behälter. Über 66 verschiedene Bonbons stehen hier bereit, um Teil einer bunten gemischten Tüte zu werden. Unter der Woche habe Timo dann zu Zeiten nach Schulschluss alle Hand zu tun, wenn es heißt „mit Lakritz oder ohne?“. Stammkunden können Timo ihre Wünsche an Tageszeitungen und Magazinen mitteilen, die regelmäßig bestellt werden und dann auf den Regalen bereitliegen. Übrigens: Wer früh am Morgen vorbeischaut, erwischt vielleicht noch eines der frisch belegten Brötchen oder ein Stück Kuchen. An Wochenenden finden sich vor den Spielen des VfL Bochum kleine Grüppchen von Stadiongängern gerne im All in Kiosk oder an den Stehtischen vor dem Laden ein, um mit dem einen oder anderen Pils von Moritz Fiege anzustoßen und vorzuglühen. 

Zudem legt die Trinkhalle den Fokus auf Produkte, die im Alltag benötigt werden. Falls beim Wocheneinkauf also mal etwas vergessen wurde, so kann der All in Kiosk auch an einem Sonntagnachmittag die letzte Rettung sein. Bereit steht eine kleine Auswahl an Hygieneprodukten, Tee, Tierfutter, Klassiker wie Zucker und Mehl oder sogar selbst gestrickte Socken.  

Zum Philosophen

Der nächste Kiosk liegt ebenfalls im Stadtteil Ehrenfeld. Nicht weit entfernt an der Hunscheidtstraße befindet sich die Bude „Zum Philosophen“. Und die hat eine spannende und außergewöhnliche Entstehungsgeschichte. Besitzer Hayri Nagili wollte eigentlich Lehrer werden, und zwar für Philosophie und Geschichte. Doch das Referendariat lief nicht so wie erhofft. Als in seiner Straße ein Kiosk abgegeben werden sollte, hat sich Hayri kurzerhand dazu entschlossen, sich selbstständig zu machen und das Refrendariat nach dem Masterstudium abzubrechen. Seit der Eröffnung 2020 ist die Bude ein beliebter Treffpunkt in der Nachbarschaft, für die Hayri immer ein offenes Ohr hat.

Ein Aushängeschild des Kiosks (im wahrsten Sinne des Wortes) ist eine Tafel mit der „Weisheit der Woche“ und einem „Bier der Woche“ aus aller Welt. Seinen Bier-Horizont kann man so wöchentlich erweitern. Das Zitat in dieser Woche lautet: „Nicht der Weg ist das Schwierige, vielmehr ist das Schwierige der Weg“.

Darüber müssen wir erstmal kurz nachdenken. Hayri erzählt uns, dass Leute zum Nachdenken zu bringen genau sein Ziel sei. Es hat also geklappt. Außerdem hat Hayri ein Kunstprojekt ins Leben gerufen. Mit „Kunst am Kiosk“ gibt es an der selbsternannten Kult(ur)bude Projekte wie Live-Acts, Lesungen und Kunstausstellungen.

Das Schaubüdchen

Das Schaubüdchen an der Ursulastraße ist mal eine andere Art von Kiosk, denn es ist ein ehemaliger Kiosk, in dem 2021 ein Arbeits- und Ausstellungsraum für Literatur, Kunst, Fotografie und Erzählungen entstanden ist. Eine Art Galerie um die Ecke im Stil der 50er-Jahre Architektur. In der Regel gibt es dort kein Feierabendbier mehr, sondern Ausstellungen kleinerer Künstler, die durch die großen Schaufenster rund um die Uhr begutachtet werden können. Das kleine Büdchen soll den Menschen des Viertels als Ort der Begegnung dienen, die immer zum Austausch eingeladen sind.

verfasst von Annika März 2023

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