
Immaterielles Kulturerbe von klassisch bis 2.0
Kiosk – Bude – Trinkhalle Immaterielles Kulturerbe von klassisch bis 2.0
Was hat der Rheinische Karneval mit der Trinkhallenkultur im Ruhrgebiet gemeinsam? Kleiner Tipp: Es ist nicht der Hang zu jecken Sprüchen beim Verteilen von Kamelle.



Richtig ist, dass beides vor Kurzem auf die Liste des Immateriellen Kulturerbes in Nordrhein-Westfalen aufgenommen wurde. Hier sind mittlerweile zwölf Einträge zu finden, unter anderem auch unser Bochumer Maiabendfest, das Steigerlied, das Brieftaubenwesen und die Bolzplatzkultur. Das Ruhrgebiet ist somit überdurchschnittlich oft vertreten und es zeigt sich mal wieder, wie viel schützenswerte Kultur vor unserer Haustür zu finden ist.
Die Begrifflichkeiten
Obwohl die Begriffe Kiosk, Trinkhalle und Bude heute meist synonym verwendet werden, haben sie sehr unterschiedliche Ursprünge. Der Kiosk stammt als „kusk“ eigentlich aus dem Persischen und bezeichnete im 13. Jahrhundert einen oft polygonalen Pavillon oder ein Gartenhaus. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff Kiosk auch im deutschen Sprachgebrauch für einen Gartenpavillon verwendet und erst seit Ende des 19. beziehungsweise Anfang des 20. Jahrhunderts bezeichnet der Kiosk einen Verkaufspavillon im öffentlichen Raum. Die Trinkhalle wurde mit Beginn der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingeführt, um Fabrikarbeitern Zugang zu unverseuchtem Wasser und anderen antialkoholischen Getränken zu geben. So sollte der Alkoholismus eingedämmt werden, der mit dem ständigen Konsum von Bier und Schnaps einherging, da das Leitungswasser zu der Zeit oft gesundheitsschädlich war. Und die Bude – die war zwar schon im 12. Jahrhundert als einfacher Verkaufsstand auf Jahrmärkten bekannt, aber als „unsere“ Bude betrat sie ebenfalls erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Parkett und war vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg stark verbreitet.
Das Phänomen
Das Ruhrgebiet und die Bude sind eng miteinander verbunden. Hier werden nicht nur die gemischte Tüte und das Eis gekauft; hier unterhält man sich mit den Stammkunden aus der Nachbarschaft über die neueste Zeitungsmeldung, den geplanten Urlaub, die Krankheit der Schwiegermutter oder das Weltgeschehen im Allgemeinen. Und genau wegen dieser sozialen Bedeutung wurde die Trinkhallenkultur als Immaterielles Kulturgut ausgezeichnet. Ins Rollen gebracht hat das die gebürtige Ruhrgebietlerin Marie Enders, die in 2020 im Rahmen ihrer Masterarbeit die Ausstellung „Third Place – Treffpunkt Trinkhalle“ in Bochum realisierte und den Antrag stellte zur Aufnahme in die Kulturerbe- Liste. Marie Enders bleibt dem Thema und Bochum übrigens weiterhin verbunden durch ihre Mitarbeit bei „Das Schaubüdchen – Kiosk für Kleine Künste“, das Anfang 2021 an der Ursulastraße eröffnet hat und in einem ehemaligen Kiosk Raum bietet für Kunst, Literatur und soziale Erzählungen.
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Der Klassiker – Das Lindener Büdchen
In Bochum gibt es natürlich zig Trinkhallen in allen möglichen Ausführungen, aber Frühstückexemplarisch möchten wir vier vorstellen. Wie etwa das Lindener Büdchen an der Hattinger Straße, direkt am Beginn der Lindener Meile. Bereits seit den 50er-Jahren steht an diesem Standort ein Kiosk, und im Juni 2017 hat Refik Gülcü die Trinkhalle übernommen, da der Vorbesitzer sich zur Ruhe setzen wollte. Er hatte bereits im Vorfeld Erfahrung mit dem Betrieb eines Kiosks und war auch in der Gastronomie tätig. Auch hatte Refik Gülcü schon immer gerne mit Menschen zu tun und ist mit dem Büdchen an der Lindener Straße groß geworden. Daher hat er die Chance in 2017 genutzt und sich mit der Übernahme des Büdchens einen Traum erfüllt. Da der Kiosk sieben Tage in der Woche geöffnet hat, kann er das Ganze natürlich nicht alleine bewerkstelligen. Ihm zur Seite stehen sein Lebenspartner Rocco Furiano und seine Mutter Ismahan Altundas, die aushilft, wenn beide mal keine Zeit haben. Die Bude hat einen klassischen Fensterverkauf mit normalerweise einem Stehtisch davor für den schnellen Kaffee, auf den zurzeit aufgrund der Pandemie verzichtet wird. Wochentags öffnet das Büdchen bereits um 6 Uhr, damit man sich auf dem Weg zur Schicht einen Kaffee und ein belegtes Brötchen holen kann. Zudem gibt es morgens auch Teilchen, alles geliefert von der Bäckerei Naber. Aber es gibt nicht nur Verpflegung für den Weg. Für alle, die gerade keine Milch, Soßenbinder oder Mehl mehr im Haus haben, bietet das Büdchen die entsprechenden Produkte. Natürlich gibt es auch Kaffeespezialitäten, Eis, Zeitschriften, Zigaretten, Getränke in allen Variationen und lose „Bömskes“. Zudem haben die drei Kioskbetreiber immer ein offenes Ohr für ihre Kunden und gerade in der direkten Nachbarschaft kennt man sich und hilft sich. Während der diversen Lockdowns haben die Stammkunden das Büdchen durch mehr Einkäufe als sonst unterstützt, damit es sich hält. Aber auch anders herum läuft die Hilfestellung. Als es einer alleinstehenden älteren Nachbarin ohne Familie finanziell und gesundheitlich nicht gut ging, haben sich Refik Gülcü, Rocco Furiano und Ismahan Altundas täglich um sie gekümmert, Essen auf Rädern und Kleidung organisiert, den Papierkram übernommen und ihr sogar einen Heimplatz besorgt, als sie nicht mehr zu Hause wohnen konnte. Der Kontakt besteht heute noch. Diese Art der Nachbarschaftshilfe ist ein perfektes Beispiel für die soziale Bedeutung der Trinkhallen.

Der Klassiker reloaded – Der Kult Kiosk
Es ging ein Aufschrei durch die Nachbarschaft, als der Kult Kiosk am Freigrafendamm in 2017 nach mehreren Jahrzehnten am selben Platz einem neuen Bauprojekt weichen musste. Zum Glück wurde schnell ein neuer Standort schräg gegenüber gefunden, am Freigrafendamm 8. Im April 2019 gab es dann einen Besitzerwechsel und seitdem betreibt Marcel Herrmann, seit Kurzem zusammen mit Marc Hoffmann, den Kult Kiosk. Auch hier war es so, dass Marcel Herrmann von den Vorbesitzern angesprochen wurde, da er in der Nähe wohnte und sich schon länger selbstständig machen wollte. Der neue Kult Kiosk hat seit dem Umzug sogar einen Verkaufsraum, in dem zwei Tische stehen, an denen nach den Corona-Einschränkungen auch wieder Kunden Platz nehmen können. Da die beiden Betreiber Anfang Juli noch das „Beste Kiosk“ an der Alleestraße eröffnet haben, ist Mutter Anni Herrmann die Seele des Betriebs und eigentlich immer vor Ort am Freigrafendamm. Der Kiosk öffnet um 7 Uhr, aber Anni Herrmann ist bereits ab halb fünf im Einsatz und backt für beide Standorte die vorbereiteten Brötchen und Teilchen zuende, belegt Wraps sowie die verschiedenen Brötchensorten und bereitet alles vor für die „Frühstückrunde“. Zum üblichen Sortiment von Kaffee(spezialitäten), den erwähnten Backwaren, Eis, Zeitschriften, Tageszeitungen, Zigaretten, Getränken und Süßigkeiten gesellen sich hier auch ein Grußkartenständer sowie Bochumer Honig aus Bienenstöcken im Laerholz. Dieser wird hervorragend angenommen und auch die Glasrückgabe klappt. Denn der Honig wird vor allem von den Stammkunden gekauft und die sind mit Anni Herrmann alle per Du. Entsprechend weiß sie auch, wer wann im Urlaub ist, wer gerade Liebeskummer hat oder Probleme auf der Arbeit. Aber es kommen nicht nur Stammkunden zum Kaffeeklatsch. Da der Kult Kiosk auch DHL-Annahmestation ist, ist eigentlich immer etwas los. Zu Hochzeiten wurden bis zu 80 Pakete am Tag abgegeben. Das Kultigste am Kult Kiosk steht übrigens links auf dem Counter: Ein guter, alter Sparkasten aus Metall. Genau, der aus den 60ern, bei dem man jede Woche einen Obolus entrichtet, und einmal im Jahr (hier Ende November) wird ausgezahlt. So hat man auf jeden Fall immer Geld für die diversen Weihnachtsgeschenke parat.

Trinkhalle mit neuer Nutzung – das Milchhäuschen
Nicht jede Trinkhalle bleibt ein Leben lang ihrer Nutzung treu. Manchmal gibt es im Laufe der Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte Änderungen, die durchaus von Vorteil sind. Wie zum Beispiel beim Milchhäuschen im Stadtpark, das auf eine bewegte Geschichte zurückblicken kann. Der Vorläufer des Milchhäuschens stand auf dem Platz, wo heute das Restaurant Franz Ferdinand angesiedelt ist. Zuerst wurde dort ab 1878 im Gärtnerhaus Milch und Mineralwasser ausgeschenkt. 1914 wurde auf dem Gärtnerei-Gelände dann das erste Milchhäuschen eingeweiht. Den jetzigen Standort an der Bergstraße erhielt die Trinkhalle 1957, wo sie bis in die 70er-Jahre in Betrieb war. Dann stand das Gebäude lange leer und wurde nach einem Brand im Jahr 2002 neu aufgebaut. Feierlich wiedereröffnet wurde es 2017, und seitdem ist es aus dem Stadtpark nicht mehr wegzudenken. Die mittlerweile vollwertige Gastronomie mit Mittagstisch und À-la-carte-Essen am Abend besitzt Innen- und Außenplätze, und mit dem umfassenden zusätzlichen Angebot aus Eis, Kaffeespezialitäten und leckeren Kuchen führt eigentlich jeder Spaziergang im Stadtpark irgendwann zum Milchhäuschen. Auch für Feiern kann es gemietet werden. Und wer anschließend noch Lust auf ein Spielchen hat, kann sich beim Minigolf direkt gegenüber ausprobieren. Eine tolle Kombination, nicht nur für Familien.

Lindener Büdchen
Hattinger Straße 747
44879 Bochum
Kult Kiosk
Freigrafendamm 8
44803 Bochum
Milchhäuschen
Bergstraße 140
44791 Bochum
Holgers Erzbahnbude
hinter Behmershof
Gelsenkirchen
Hier gibt es auch noch Biergenuss
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